Theater Titanick: „Lost Campus“

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Theater Titanick: „Lost Campus“
Wie kommt ein verlorener „Unort“ und die mit ihm verbundenen Themen Kriegsgefangenenlager und Zwangsarbeiter wieder zurück ins öffentliche Bewusstsein Münsters? Wie wollen wir uns erinnern? 

von Jürgen Lemke

Die Empörung über den sang- und klanglosen Abriss einer ehemaligen Kriegsgefangenen-Baracke wegen des Neubaus von Immobilien im Jahre 2013 in Münster ist berechtigt. Aus diesem gedankenlosen Akt spricht ein mangelndes Geschichtsbewusstsein und auch eine Pietätlosigkeit gegenüber Toten, Überlebenden aus den Lagern und deren Angehörigen. Insbesondere dann, wenn es in und um Münster ungefähr 180 Orte gegeben hat, an denen offenbar tausende Zwangsarbeiter verhungert oder auf andere erschreckende Weise zu Tode gekommen sind und – dies nun der letzte Ort seiner Art war.
Ein Schock auch für „Theater Titanick“, dass mit diesem radikalen Akt nun innerhalb weniger Monate zudem noch der Grund für den Antrag „Unorte“ beim Fonds Darstellender Künste verschwunden war.
Umso mehr ist anzuerkennen, dass eine Kooperation aus „Theater Titanick“, „Filmwerkstatt Münster“ und „Geschichtsort Villa Ten Hompel“ diesen für Münster verlorenen Ort mit neuem Projekt-Konzept in ein öffentliches Bewusstsein zurückholen will. Auch zeitaktuell wichtig, angesichts eines sich immer weiter in Richtung (Bürger)Krieg zuspitzenden Ukraine Konflikts, eines drohenden Rückfalls der Großmächte in einen Zustand des „Kalten Krieges“ und den Spekulationen über eine sogar erneut möglich scheinende Auseinandersetzung in Europa.

Das Projekt „Lost Campus“ musste für einen neuen Ort gedacht und geplant werden. Nun sollte der verlorene „Unort“ an der Gasselstiege als Erinnerungsstätte, auch als Denkmal und Störfaktor, im Zentrum Münsters neu entstehen. Ein „Stolperstein“, nun nicht mehr am Rande sondern mitten drin. Das massive Lager aus Holz entsteht schließlich neu an den Kugeln im Freizeit- und Erholungsgebiet Aasee. Vom 1. bis zum 8. Mai arbeitet hier die Veranstaltergemeinschaft am historischen Bewusstsein Münsters mit einer ästhetisch partizipierenden und intervenierenden Erinnerungskultur zum Thema Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter.
Im Mittelpunkt stehen dabei die bauliche Rekonstruktion der ehemaligen Baracke sowie temporäre „Installationen“ der jeweiligen Bauabschnitte, „Theater-Performances“ in den unterschiedlichen Bauzuständen der Baracke. Fortlaufende „Informationen“ an einem Info-Pavillon, sowie Vorträge und Lesungen zum geschichtlichen Kontext und filmische Dokumentationen der Filmwerkstatt Münster bilden hierzu den Rahmen.

Gelungen ist die installative Setzung des Bauprojekts und seine unmittelbare nicht zu übersehende Präsenz im Öffentlichen des gut besuchten Naherholungsgebiet Aasee mit Bauzaun und gestaltetem Bauschild mit der Aufschrift: „Hier entsteht ein Kriegsgefangenenlager zur Erinnerung an die 180 Zwangsarbeiter- und Kriegsgefangenenlager in Münster und Umgebung.“
Durch den radikalen Impetus dieser Setzung insgesamt scheint wahrnehmungsseitig gesichert: jeder noch so in sich versunkene Münsteraner Aasee-Umrunder wird spätestens bei seiner zweiten Runde etwas merken, hoffentlich schnaufend innehalten und sich fragen: Was soll das denn hier an diesem Ort?
Das Ensemble schafft eine erwünschte Aufmerksamkeit und wer will, kann sich fundierte Hintergrund-Informationen zum Thema am Pavillon daneben und bei den täglichen Vorträgen beschaffen. Hier findet mit ästhetischen Mitteln ein verwirrendes aber dennoch achtsames Spiel gegenüber diesem ernsten Thema statt. Die unmittelbare Begegnung an jenem Ort Aasee mit diesem historisch monströsen Unglaublichen und Unvorstellbaren kann zum Nachdenken und Handeln auffordern. Angesichts eines schon auch im wahrsten Sinn des Wortes „verrückt“ scheinenden Akts, der unmittelbar Fragen bei jedem Vorbeilaufenden aufwerfen kann.

Die Idee der Rekonstruktion und fortlaufenden installativen Setzung der Baracke als Erinnerungs-Objekt und Mahnmal im Öffentlichen funktioniert im Sinne einer ästhetisch begründeten Erinnerungs-Kultur. Die Aktion hat nicht nur in seiner Materialität sondern durch die ernsthaft plausible und planerisch präzise durchgeführte Konsequenz seiner baulichen Umsetzung Größe. Sie erzeugt über die Intervention im Öffentlichen und auch als ästhetische Irritation erwünschte Aufmerksamkeit beim Publikum. In seiner Baustellen-Erscheinung mag dies zwar auch an das fiktive Projekt der „Skulptur.Projekte 2007“ von Annette Wehrmann erinnern: „AaSpa – Wellness am See, hier baut die AaFit+Well AG ein Wellness-Hotel.“ Doch hier geht es eben gerade nicht um ein Spiel mit dem Fiktiven sondern um bittere Realität. Die Ernsthaftigkeit im Umgang mit diesem hochbrisanten Thema ist angesagt und erforderlich.

Wäre es insofern für „Theater Titanick“ klüger gewesen, sich bei diesem Thema im Sinne einer Erinnerungs-Kultur mit der überzeugenden installativen baulichen Setzung in Verbindung mit den wichtigen und notwendigen historischen Informationen und Dokumentationen zu begnügen? Insbesondere unter den Gesichtspunkten Pietät und Achtsamkeit für einen besonderen geschichtlichen Ort und der Etablierung einer etwas anderen Erinnerungs-Kultur, die Holz-Baracke nun nicht als Bühne in einem spektakulären Sinne theatral oder performativ zu bespielen?
Warum reichten die mit titanickscher Wucht, Größe und handwerklicher Perfektion ausgeführten baulichen Aktionen und Installationen nicht aus? Zusammen mit historisch fundierten Vorträgen, Lesungen und den partizipativen Dokumentationen mit thematischen Statements von Bürgerinnen und Bürgern? In diesem sich fruchtbar ergänzenden Zusammenspiel scheint mir nämlich Erinnerungs-Kultur für diesen „Unort“ zu gelingen.

Im Bereich der sprach-künstlerischen Auseinandersetzungen der abendlichen Performance am ersten Abend geht es leider oftmals peinlich an Grenzen. Ein Theater, dass sich sonst eher ohne verständliche Sprache, per Grommolo und bildhaft ausdrückt, arbeitet nun ausgerechnet hier mit solchen Texten? Bei einem derart sensiblen Thema?
„Theater Titanick“ hat sich mit seinem Regisseur Christian Fries leider nicht wie angekündigt zurückgehalten. Reicht es aus, auf Kostüme und Effekte zu verzichten und Alltagskleidung anzuziehen, wenn dann die Texte selbst eher „spektakulär“ ausgewählt und inszeniert scheinen? Wenn sich erschreckende Grausamkeiten und extreme Scheußlichkeiten aus Kriegsgefangenenlagern am Abgrund des Menschlichen, durch immer weitere Schrecklichkeiten noch zu überbieten versuchen? So wird Erinnerungskultur nicht lebendig und auch nicht anrührend.

Es stellen sich vielmehr Fragen nach Pietät und Achtsamkeit: Ist es angesichts dieser brisanten Thematik legitim, sich biografische Erinnerungs-Texte aus den sogenannten „Freitagsbriefen“ für künstlerische Zwecke zu entleihen, um sie eher spektakulär für die Bühne zuzubereiten? Sie nun ähnlich, wie andere Texte als Material frei improvisierend zu nutzen? Ist es nicht eher schon fast auch entmündigend, einen biografisch zugeschriebenen Text eines erinnernden Individuums nun beliebig auseinander zu nehmen und unter dramaturgischen Gesichtspunkten fragmentarisch neu zusammenzustellen. Ihn teilweise gleichsam wie nach dem Kriterium „Erschrecken“ auszuwählen und danach immer noch weiter steigernd aneinanderzureihen und grausam schrecklich aufzuhäufen? Um schließlich was zu bewirken? Ein noch größeres Befremden und Erschrecken?

Kann man mit solchen Texten überhaupt szenisch umgehen? Kann nur jemand sie „performativ“ füllen, der sich dabei selbst auch in einen Ausnahmezustand seiner Existenz begibt, seine eigenen Grenzen erforscht und ansatzweise versucht, solches Leid nachzuempfinden? Indem er selbst hungert und unter ähnlichen Bedingungen lebt? Was bräuchte es also, um „künstlerisch“ angemessen im Sinne von existenzieller Performance mit solchen Texten umzugehen anstatt zu „Schau-spielen“? Wie würde eine „Performance-Künstlerin“ mit „Performance am verlorenen Ort der Kriegsgefangenen“ umgehen? Beispielsweise Marina Abramović, die dafür bekannt ist, dass sie stets radikal an ihre eigenen existenziellen Grenzen geht?
Mich jedenfalls hat als Zuschauer an vielen Stellen des ersten Aufführungs-Abends eher die Form des Umgangs mit den Texten peinlich betroffen gemacht.

Insbesondere dann, wenn bekannt ist, dass diese teilweise hoch traumatischen Erinnerungen in den „Freitagsbriefen“ russischer Zwangsarbeiter und Kriegsgefangener wiederum aus großer Not und unter materiellen Zwängen erinnernd hervorgeholt und größtenteils auch nur deshalb aufgeschrieben wurden, um endlich als Kriegsopfer anerkannt und entschädigt zu werden – eine deutsche Regierung dies dann aber per Gesetz abgelehnt hat. Wie erbärmlich.
Es erscheint insofern fragwürdig, die biografischen Erinnerungen Überlebender aus den Lagern für „Show-Zwecke“ einzusetzen. Sie mit von „Theater Titanick“ bekannten ästhetischen Mitteln aus spektakulären Aufführungen, etwa durch geräuschvolles banales Alltagshandeln, wie Putzen, Wischen, Waschen sowie mit schrägen Posaunenklängen zu übertönen, zu verfremden und sie somit zu konterkarieren? Klingt es nicht eher schon zynisch, wenn laut Regie nun „durch ein Brechen des Textes die Grausamkeit für den Zuschauer erträglich gemacht werden soll“? Und „immer schon auch Menschen grausam behandelt wurden und gestorben sind während ringsum jeder seinem Alltag nachging“?
Wie also wollen wir uns erinnern?

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Nachtrag

Wer in Münster vom 1. bis zum 8. Mai 2014 nicht täglich Zeit hatte, die neu rekonstruierte Erinnerungs-Stätte „Lost Campus“ zu besuchen und den installativen Bau-Prozess zu verfolgen, wird sich vielleicht auch fragen, wo die Holz-Baracke verblieben ist. Am Aasee ist sie jedenfalls verschwunden und aus der lokalen Presse war auch nichts zu entnehmen. Keine Berichte, keine Nachbesprechung, keine Fotos…? Was ist geschehen?

Wenn dieser spektakulär rekonstruierte Geschichts-Ort offenbar nun erneut aus dem Wirklichen verschwunden ist, findet sich dann zumindest noch eine Erinnerungsspur im virtuellen Raum? Meine Internet-Recherche nach „Lost Campus“ befördert Ernüchterndes: Auf der Seite von „Theater Titanick“ ist nur noch im Tourplan der Ankündigungs-Flyer zum Projekt ansonsten keine weitere Dokumentation. Nicht einmal ein eigener Bereich, ein virtuell gestalteter Erinnerungs-Ort? Nur unter https://www.facebook.com/pages/Theater-Titanick/195951477204452 sind noch einige Fotos.
Zu meiner Enttäuschung entdecke ich auch bei den Kooperationspartnern des Projekts „Geschichtsort Villa Ten Hompel“ und „Filmwerkstatt Münster“ keinerlei Hinweis. Nicht die Spur einer Erinnerungs-Kultur?

Das Verschwinden des rekonstruierten Ortes am 8. Mai lässt sich dankenswerter Weise immerhin noch im „Attac Netzwerk“ der Gruppe Münster/Hamm nachvollziehen. Dort dokumentieren Fotos von Sylvia Dams das Titanick Finale: http://www.attac-netzwerk.de/fileadmin/user_upload/Gruppen/Muenster/Attac_Website/Termine/080514_Theater_Titanick_Lost_Campus.jpg

Internetrecherche Lost Campus Rekostruktion Abriss über Attac

Auf der öffentlich sichtbaren Facebook-Seite einer der Schauspielerinnen des Projekts, Ludmilla Euler, finde ich in ihrer Chronik Informationen zum Ende der Erinnerungs-Stätte „Lost Campus“: 

Internetrecherche Lost Campus Rekonstruktion Abriss über Akteurin bei Facebook3

https://www.facebook.com/ludmilla.euler?fref=ts

Das endgültige Verschwinden des Erinnerungsortes mit dem spektakulären Abriss der Baracke „Lost Campus“ im Rahmen der Show und seine nachlässige Behandlung werfen Fragen auf:
Warum hat „Theater Titanick“ die rekonstruierte Erinnerungsstätte am Aasee nicht erst einmal stehen lassen? Zumindest für eine kurze Zeit? Dann hätte sich eine öffentliche Diskussion über den weiteren Umgang mit diesem Geschichtsort in Münster entwickeln können? Hätte sich nicht ein sinnvollerer Lager-Ort finden lassen als das Kulissenlager von „Theater Titanick“? Vielleicht wäre gar ein Schulhof gefunden worden, wo angesichts großer Raumnot dankbar ein neuer Ort für Geschichts- und Theater-AGs angenommen worden wäre? Oder wäre das zu unspektakulär gewesen?
Wie wollen wir uns nun erinnern?

 

„Lost Campus“

Das Ensemble

Konzept Theater Titanick, Christian Fries
Künstlerische Leitung Uwe Köhler
Regie Christian Fries
Spieler Ludmilla Euler, Clair Howells, Georg Lennarz, Matthias Stein, Rahel Valdivieso
Bühnenbild André Böhme
Bauleitung Justus Weber
Bauten Hubert Hogrebe, Elias Macke, Jan Rieve, Robert Schiller
Musik Helmut Buntjer
Kostüm Tanja Schulte
Licht Johannes Sundrup
Ton Ingo Koch
Regie-Assistenz / Recherche Isabelle Bettmer
Produktion Denise Rietig
Projektleitung Clair Howells
Tourmanagement Sarah-Jane Reed
Film/Projektion Filmwerkstatt Münster Winfried Bettmer, Daniel Huhn, Julian Isfort
Info Point Isabelle Bettmer, Sarah-Jane Reed
Betreuung Joscha Gingold, Johannes Schlüter, Johanna Schäpermeier, Teresa Brugues, Freundeskreis Theater Titanick Münster
Historische Recherche Christoph Spieker, Villa ten Hompel, Dr. Gaby Flemnitz (Historikerin), Anja Gussek (Stadtarchiv Münster), KONTAKTE-KOHTAKTbI e. V. Berlin, Verein für Kontakte zu Ländern der ehemaligen Sowjetunion, Dr. Pavel Polian (Historiker), Dokumentationsstätte STALAG Senne

http://www.titanick.de/htcms/de/aktuelles.html

FREITAGSBRIEFE
http://www.kontakte-kontakty.de/deutsch//ns-opfer/kriegsgefangene/oeffentliche-petition-an-den-bundestag.php

http://www.kontakte-kontakty.de/deutsch/ns-opfer/freitagsbriefe/index.php

KONTAKTE-KOHTAKTbI
Verein für Kontakte zu Ländern der ehemaligen Sowjetunion

 

Ein Gedanke zu „Theater Titanick: „Lost Campus“

  1. Danke für die ehrlichen Worte, die anregen und inspirieren zum Immer-wieder-weiter-nachdenken über den adäquaten und vielfältigen Umgang mit Historischem und Wahrem.

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