»Die alten Götter sind müde«…»Wait Again for better Gods«…»Waste no time!«
Die ungeheure magische, begeisterte Bild-Kraft des afrikanischen Kontinents mit seinen vielfältigen Kulturen, Kulten und kultisch seherischen Handlungen, die Weissagungen schwarzer Seher*innen, kommen in »Sibyl« nicht zur Aufführung. Warten wir nun hoffnungsvoll auf die »Sangoma«, südafrikanische Seher*innen, die auch heute noch wirken sollen?
Eine Kritik von Jürgen Lemke

»Sibyl«, das Eröffnungsstück der Ruhrfestspiele Recklinghausen ’22, die dieses Jahr unter dem Motto »Haltung und Hoffnung« stattfinden, besteht aus zwei Teilen. Im ersten präsentiert sich unter dem Titel »The moment is gone« in einem 20 minütigen Stummfilm der Künstler William Kentridge, der berühmte »weiße alte Mann« aus Südafrika, in weißem Hemd und schwarzer Hose, mit seiner zeichnerischen Arbeit. Wir erleben eine filmische Selbstdarstellung des Künstlers und Regisseurs in seinem Atelier. Er führt uns medial minutiös, in vielen Wiederholungen seine Arbeitsmethoden, seine speziellen Zeichentechniken mit Kohle, Stift und Lineal vor. Den Stop-Motion-Film artigen Entstehensprozess seiner Bilder und Zeichnungen, die viele Male überarbeitet werden. Er wischt akribisch, korrigiert und überzeichnet so lange, bis ein Bild steht. Er dokumentiert den Prozess, wie mit viel Kohlenstaub seine Motive, linear und plastisch, mit Licht und Schatten schließlich bildhaft erscheinen. Die Bildmotive zeigen karge Landschaften in Afrika. Bäume und Blätter, ein offenes Grab. Das Portrait eines schwarzen Mannes, als Bild in einer Ausstellung. Davor der »weiße Mann«, ein Ausstellungsbesucher, der Künstler, der sich das Bild anschaut? Der Künstler Kentridge wird im Film doppelt dargestellt, er erscheint als zwei Personen auf der Projektions-Leinwand. Die eine agiert, die andere filmt. Er wird zum überpräsenten Beobachter seiner selbst, zu seinem Alter Ego. Auf alten vergilbten Planzeichnungen zeichnet der weiße Mann im Film mit langen Kohlestücken, schwarz auf weiß. Vor der Film-Leinwand auf der Vorbühne stehen live vier schwarze Männer und untermalen den Stummfilm mit ihrer Stimme. Sie werden von einem Pianisten begleitet. Nach knapp zwanzig Minuten ist unvermittelt schon Pause…
Wir warten weiter auf die Sibylle… und es stellt sich die Frage, warum William Kentridge, seine sicherlich faszinierende zeichnerische Methodik derart schwarz-weiß exponiert, fast schon didaktisch präsentiert, so als könne man die nachfolgende Kammeroper »Waiting for the Sibyl« nicht verstehen, ohne vorher seine Zeichenmethoden zu sehen? Warum lässt Kentridge die filmische Darstellung seiner Arbeit durch vier schwarze Männer musikalisch untermalen? »Schwarz und Weiß« spielen bei der Rezeption eine große Rolle. Der Künstler ist im Apartheits-Regime Südafrikas aufgewachsen und hat sich als Weißer dem Thema der unterdrückten Schwarzen immer wieder kritisch in seiner künstlerischen Arbeit angenommen. Weshalb aber wählt er als Regisseur, der explizit in seinem Werk Kolonialismus und Ausbeutung Afrikas durch Weiße thematisiert, sich für die Rechte von Schwarzen einsetzt, ein theatrales Setting, in dem Schwarze auf der Bühne eine eher ausführende begleitende Rolle, sozusagen im »Dienste des Weißen Mannes« spielen?
Das Stück »Waiting for the Sibyl« ist ursprünglich eine Auftragsarbeit aus dem Jahr 2019 u.a. für das »Teatro dell’ Opera di Roma«. William Kentridge war eingeladen, ein Begleitstück zu entwickeln zum Stück des amerikanischen Künstlers Alexander Calder aus dem Jahr 1968 mit dem Titel »Work in Progress«. Die einzige Bedingung damals war, dass die begleitende Musik nicht live sondern vom Band gespielt werden sollte… Beide Stücke – Calder und Kentridge – wurden im September 2019 in Rom nacheinander an einem Abend aufgeführt. Das erklärt vielleicht, warum Kentridge auch bei den Ruhrfestspielen zwei Stücke hintereinander setzt. Anstelle von Calder platziert er nun allerdings den Film über seine eigene Arbeit. Kentridge entwickelte damals auftragsgemäß Ideen, die sich einerseits auf die Leichtigkeit der sich drehenden Mobile Arbeiten Calders bezogen, andererseits orientierte er sich am Mythos der Seherin »Sibylle von Cumäa«, die in Dantes »Paradies« erwähnt wurde. Laut Kentridge wurde die Seherin und Prophetin in ihrer Felsengrotte in der Nähe Neapels, von Menschen zu ihrem Schicksal befragt. Sie soll ihre Antworten auf Eichenblätter geschrieben haben. In Kentridge’s Vorstellung würde es daher einen Haufen (Eichen)-Blätter an der Vorderseite ihrer Höhle geben und die Leute würden kommen, um ihre Antworten zu erhalten. Aber unweigerlich würde es auch einen Wind geben, der die Blätter herumwehe, so dass man nie genau wisse, ob man wirklich sein Schicksal oder das eines anderen bekomme. Das sei für ihn eine schöne Metapher dafür, dass unsere Zukunft nicht vorhersagbar ist.
Kentridge entfacht in der überarbeiteten Fassung »Waiting for the Sibyl«, zwischen Calder und Sibyllinischen Assoziationen auf Bühne und Projektionsleinwand, sein berühmtes visuelles Feuerwerk zwischen Tanz, Performance, Gesang, dadaistischen Sprechakten, Tusche-Kalligraphien, Schattenspielen und assoziativen Wortspielen. Wir erleben in einer Art »Platonischer Höhle«, zwischen Licht und Schatten, eine Bilderflut schwarz-weißer Collagen, in deren Zentrum eine schwarze Sibylle wild und ekstatisch, ihre Röcke werfend, auf der Stelle tanzt. Ihr Schattenspiel auf der Leinwand, ihre Silhouette, vermischt sich mit Wort-Projektionen, zusammengewürfelter sinniger und unsinniger Weissagungen und Orakel auf getuschten, beschrifteten, durcheinander wirbelnden papiernen Blättern aus Wörterbüchern, die teilweise wie rätselhafte Rorschachtests anmuten. »Die alten Götter sind müde«…»Wait Again for better Gods«…»Waste no time!« Wir erleben skurrile Handlungen und Collagen mit den schwarzen Darsteller*innen auf der Bühne: ein Stuhl bricht schicksalhaft zusammen, fünf Schwarze formieren sich zu einem Sibyllen-Ensemble, ein Darsteller tippt wild auf einer Schreibmaschine, ein anderer lauscht den Blättern und gibt ihnen eine Stimme. Kurzum viel Rätselhaftes und Irritierendes geschieht, das sich nur wenig beruhigt, wenn wir auf der Leinwand eine hingetuschte Calder-artig sich drehende, buchstabenproduzierende Schreibmaschine als Objekt sehen, die im langsamen Drehen ihre Form verliert und nur aus einer Ansicht erkennbar ist. Letztlich geht es in »Sibyl« um das nicht vorhersagbare Schicksal der Menschen, die heutzutage auch noch dem alles beherrschenden maschinellen Computer-Algorithmus unterworfen sind, der selbst unser kreditwürdiges Schicksal vorherbestimmt: Geld oder Leben? Das Warten auf die handlungsweisenden Sprüche einer Seherin lohnt nicht: Wir müssen unser Schicksal selbst in den Hand nehmen!
Ich bin von Kentridge’s »Sibyl«-Inszenierung, von dem gut inszenierten Bilder-Rausch fasziniert aber nicht wirklich begeistert. Sein visuelles Feuerwerk reißt mich nicht, wie viele andere Zuschauer*innen aus dem Sitz zu Beifallsstürmen, zu Standing-Ovations. Es läßt mich im Gegenteil ernüchtert und in Gedanken zurück. Das visuell perfektionistisch Durchplante wirkt in seinem Gehalten-Sein auf mich, trotz aller Bewegung seltsam seelenlos. Der weiße Mann, der seine imposante Bilderwelt (zusammen) mit Schwarzen inszeniert, trifft nicht wirklich in der Tiefe. Die wunderbaren Stimmen, Handlungen und Tänze der schwarzen Darsteller*innen wirken auf mich nicht wirklich ekstatisch begeisternd. Sie bleiben trotz aller Faszination ausgestellt, konzeptuell kühl inszeniert, eingepasst in eine primär visuell funktionierende künstlerische Konzeption. Auf dem Rückweg zum Parkplatz höre ich hinter mir den Kommentar einer Zuschauerin: »Die Inszenierung hat doch perfekt funktioniert. Alles hat gepasst: Licht, Film, Aktion, Sound, Bilder, Stimmen, Choreografie, das Timing…« Ihr »perfekt funktioniert« beschreibt treffend die Dominanz der technischen Umsetzung, der die Menschen, hier die schwarzen Menschen, sich unterzuordnen haben. Der Lichtstrahl der Projektion zwingt sie wegen des perfekten Schattenwurfs an ihren Ort. Das hierdurch Verhaltene wirkt bei den Darsteller*innen, bedingt durch ihr örtliches Verhaftet-Sein auf der Bühne. Wie Marionetten, an unsichtbaren Fäden gehalten, bewegen sie sich regiegeführt an die ihnen perfekt zugewiesenen Orte. Scheinwerfer und Projektoren bilden bewegte menschliche Schatten zusammen mit Projiziertem auf der Leinwand ab, exakte Schattenrisse werden erwartet. Und zeigen potenziell jeden Positions-Fehler auf. Höchste Kontrolle ist angesagt. Ich kann mir den minutiösen, vielleicht auch quälerischen Produktions-Prozess in den Proben zwischen Regie und Darsteller*innen vorstellen, bis am Ende alles exakt passt. Bis die präzisen visuellen Vorstellungen des Künstler-Regisseurs auf der Bühne umgesetzt sind.
Der Künstler Kentridge selbst wirkt gehalten im gesetzten Rahmen zwischen kontrolliertem Zufall und hoher Impulsivität. Dieses Gehalten-Sein des Künstlers, seine überkontrollierende Grundhaltung, die sich über seine zeichnerischen Bewegungen äußert, eine hyperpenible Haltung manifestiert sich auch in seiner Regiearbeit. Die strenge Bild-Führung scheint für ihn notwendig, ohne die das Stück nicht funktionieren kann? Das wirkt begrenzend und ernüchternd. Jedes Bild muss für ihn, trotz aller improvisierenden Suche, am Ende visuell exakt passen. Penibel genau. Seine Choreographie-Ideen auf der Bühne müssen mit den Schatten-Projektionen auf der Leinwand übereinstimmen, sonst funktioniert sein Licht- und Schattentheater nicht. Positionen müssen eingehalten werden, ein äußerst exaktes Timing ist erforderlich. Die schwarze Tänzer*in ist gezwungen, an ihrem Standort zu bleiben, damit ihr Schatten perfekt auf der Leinwand abgebildet wird. Sie muss daher ihre wilden ekstatischen Bewegungen zugleich unter höchster Kontrolle durchführen. Eine hohe Ambivalenz scheint auf. Der Künstler zeichnet einerseits mit Lineal, als würde er jeden seiner Striche genauestens kontrollieren wollen. Andererseits vollführt er impulsiv gestische Pinselschwünge in seinen schwarz-weißen Tusche-Kalligraphien. Gibt sich kontrolliert exzessiven Zeichenausbrüchen hin, wie Notationen seines Unbewussten, insbesondere bei den informellen Übermalungen von Schriftstücken.
Wir erleben im Film einen Künstler, der sich selbst beobachtet, sich zeichnerisch kontrolliert, korrigiert und zugleich wie aus einer nebulösen unbewussten Wahrnehmungswolke heraus agiert, bis sich die richtige Form gleichsam im Verwischen bildet. Im beständigen Hineinsehen in amorphe Strukturen, aus denen heraus schließlich Umrisse und Konturen von Gegenständen erscheinen. Er arbeitet, als würde er sich selbst durchs Zeichnen finden, ja neu erfinden. Der Zeichner wirkt beständig an seinem eigenen Sibyllinischen »Hinein-Sehen« in die Welt. Er visioniert. Er verwirft. Er sieht das, was er sieht. Er läßt es stehen. Zwischen bewusst und unbewusst. Er arbeitet auf der Projektionsfläche. Letztlich an sich selbst. Zwischen Form und Erscheinung. Es ist ein Prozess des sich Selbst-Findens auf der Projektionsfläche. In einem unermüdlichen anstrengen Prozess von Findung und Selbst-Hinterfragung: »Habe ich es wirklich geschafft? Doch was ist schon wirklich?« Ständig steht der Künstler im Atelier hinter sich und beobachtet sich bei dem, was er tut. Ein anstrengender schon auch zwanghafter Prozess zwischen Kontrolle und Loslassen, vom Lineal gezogenen schnurgeraden Strich bis hin zu kurzen ekstatischen, impulsiv gestischen Pinselausbrüchen in dem sich Kalligrafisches befreit Bahn bricht.
Weshalb erleben wir in der Kammeroper »Waiting for the Sibyl« keine afrikanische Seherin, wie sie heutzutage noch als »Sangoma« in Südafrika praktizieren und noch immer regen Zulauf haben sollen? Hiermit würde eine heute noch lebendige, magisch animistische afrikanische Kultur »gesehen« und anerkannt. William Kentridge ignoriert offenbar afrikanische mythologische Wurzeln, die auch schon von seinen Vorfahren in Südafrika unterdrückt wurden und favorisiert die antike christlich-römische Kultur Italiens, in der heidnische Kulturen durch die Kirche vereinnahmt wurden. Er bezieht sich auf die »Sibylle von Cumäa«. Im Wandgemälde Michelangelos in der Sixtinischen Kapelle wird die als Einzige mit einer dunklen Haut dargestellt. Die kommt aber aus Italien und nicht aus Afrika. Ist sie wichtig, weil sie schon der berühmte Michelangelo im Auftrag der Kirche neben der christlichen Schöpfungsgeschichte unter die Decke der Sixtinischen Kappelle in Rom gemalt hat? Fünf unterschiedliche Sibyllen werden dort zusammen mit Büchern oder Schriftrollen dargestellt. Sie sind schriftlich benannt und örtlich zugeordnet: »Delphica«, »Erythräa«, »Cumäa«, »Persica« und »Libyca«, sie kamen aus Griechenland, Ionien, Italien, Asien und Afrika.
Sibyllen repräsentieren vorchristliche Seherinnen aus unterschiedlichen Teilen der römisch-griechischen heidnischen Götter-Welt, die hier allerdings verchristlicht dargestellt sind. Im Himmel der Sixtinischen Kappelle erscheinen sie neben Propheten und der christlichen Genesis, der Schöpfungsgeschichte. Das Geschick der Menschen wird bestimmt durch die Hand des einzig wahren Gottes. Jeder Erkenntnisgewinn von Menschen hat ausschließlich von Gott zu kommen? Jede andere Form von Erkenntnis ist Sünde? Neben dem »Baum der Erkenntnis«, mit Adam und Eva und der Schlange, sehen wir in der Mitte den Finger Gottes… Wer sich verführen läßt und nach verbotenem Wissen handelt, wird bestraft und aus dem Paradies vertrieben.
Vom Orakel in Delphi aus Griechenland ist bekannt, dass die Seherin, bei ihren Weissagungen auf einem dreibeinigen Hocker über einer Felsspalte gehockt habe, aus der berauschende Dämpfe emporstiegen, die sie in einen tranceartigen Zustand versetzt haben sollen. »Sibyllen« werden bei ihren rätselhaften Prophezeiungen ekstatische Zustände an Orten wie Felsennischen oder Grotten zugeschrieben.
Seher*innen der sogenannten »heidnischen Kulturen« und – vermutlich auch die heute lebenden südafrikanischen Sangomas – weissagen nicht aus Büchern. Sie sprechen oder singen auch heute noch ihre in Trance oder Ekstase empfangenen Botschaften. Sie schreiben ihre Worte weder auf Blätter noch in Bücher. Ihnen stehen andere Quellen als »heilige« Schriften zur Verfügung, aus denen eine göttliche Stimme zu Ihnen spricht. Alle Dinge sind belebt, ja beseelt und begeistert. In jedem Baum und Stein gibt es etwas Göttliches, das zu denen spricht, die es vernehmen können. Seher*innen, Schaman*innen oder Priester*innen begeben sich an besondere heilige Orte, Bäume, Berge, Höhlen und Quellen. Sie tanzen, trommeln oder berauschen sich in Trance oder Extase. Sie summen, singen, raunen und weissagen mit Worten. Sie begeben sich in die Einsamkeit von Höhlen. Sie sehen und weissagen die Zukunft aus dem Rauschen der Blätter heiliger Bäume, aus dem Murmeln der heiligen Quelle, dem Wurf von Knochen oder Scharfgarben-Stäben. Es ahnt und raunt ihnen etwas aus den vom Wind bewegten Zweigen und raschelnden Blättern eines Baumes zu. Es gibt nicht den einen wahren Gott sondern viele Götter*innen oder Geister.
»Sibyllen«, heidnische Seherinnen, waren besonders in Zeiten großer Verunsicherung sehr gefragt. Wenn das Volk sorgenvoll in den Götter-Himmel schaute, alles genauestens beobachtete und auf deutliche Zeichen und Wunder wartete. Alles war schicksalhaft bedeutsam, ob der Ruf eines Uhus, ob der Himmel leuchtete und donnergrollte oder ob es eine Missgeburt gab. Vieles konnte auf eine kommende Katastrophe hinweisen. Um den Zorn der dafür verantwortlichen Gött*innen zu besänftigen, wurden Seherinnen und Orakel befragt, welche Opfer ihnen darzubringen waren. Denn nur durch Opfer vor Statuen der entsprechenden Gött*innen oder gegenüber den Ahnen konnten nach dem Glauben der Menschen katastrophale Auswirkungen, wenn nicht verhindert, so doch zumindest gelindert werden: Kriege, Pestilenzen, Seuchen, Heuschreckenplagen, Feuer, Erdbeben, Vulkanausbrüche… Die damaligen leibhaftigen Sibyllen waren schon vor Christi Geburt Geschichte, man half sich im alten Rom mit etruskischen, griechischen und römischen Orakeln aus Büchern! Die sogenannten »Sibyllinischen Bücher«, die vermutlich von der römischen Obrigkeit im eigenen Sinne manipulierte Aufzeichnungen von Weissagungen vieler damals bekannter Sibyllen enthielten, wurden in Krisenzeiten von den sogenannten »Decemvir« im Auftrag des Senats konsultiert. Sie verkündeten anhand passender Orakel die entsprechenden Opfer-Maßnahmen, über welche Rituale, Zeremonien, Prozessionen, Bitt- und Sühnehandlungen der Zorn der Gött*innen oder der Ahnen versöhnt werden konnte.
Die südafrikanische Apartheid, in der die Weißen 200 Jahre über die Schwarzen geherrscht haben, wirkt machtvoll in die Sibyl-Inszenierung von William Kentridge hinein. Ein »weißer Mann« inszeniert seine Visionen und Projektionen. Er projiziert seine Bilder und Vorstellungen mithilfe schwarzer Menschen auf Bühne und Leinwand. Und schon ist es da, ob man will oder nicht, das Klischee. Selbst hier, unter der Regie eines schwarzenfreundlichen Weißen, machen Schwarze das, was sie bekanntermaßen sehr gut können: singen und tanzen? Oder ist das zu schwarz-weiß gesehen? Warum spielt die lange Kult-Geschichte schwarzer Seher*innen aus Afrika in diesem Stück keine Rolle? Als wenn ein weißes Kontrollsystem sich wie eine unsichtbare Aura über die Aufführungen legte, werden schwarze Darsteller*innen zu dienstbaren Geistern, ja ungewollt vielleicht sogar wieder auch zu Sklav*innen der höchste Präzision einfordernden schwarz-weißen Bildproduktion? Wo ist die begeisternde Anima einer schwarz-afrikanischen Kult-Geschichte? Wo kommt sie ungeplanter, ekstatischer zur Aufführung? Wo darf sie sich freier entfalten? Ich spüre in dieser Inszenierung, in den Aufführungen der Darsteller*innen, nicht die kraftvolle kultische Seele Afrikas. Ich vermisse die heute noch wirkende Magie afrikanischer Seher*innen, jenseits einer antiken griechisch-römischen Fesselung, die noch nicht historisch fixiert und niedergerungen ist. Die ungeheure magische, begeisternde Bild-Kraft des afrikanischen Kontinents mit seinen unzähligen Kulturen, Kulten und kultisch seherischen Handlungen, die Weissagungen einer schwarzen Seherin kommen in »Sibyl« leider nicht zur Aufführung. Das Vermächtnis und die Bürde der südafrikanischen Apartheid zwischen Weiß und Schwarz bedarf dringend einer thematischen Überarbeitung aus Sicht der schwarzen Seherin. »Wait Again for better Gods!« »Waste no time!« Warten wir hoffnungsvoll auf die »Sangoma«?

SEE ENGLISH VERSION BELOW
Links:
https://de.wikipedia.org/wiki/Römische_Religion
https://de.wikipedia.org/wiki/Sangoma
https://de.wikipedia.org/wiki/Sibyllinische_Bücher
https://www.wikiwand.com/de/Sibyllinisches_Orakel
https://de.wikipedia.org/wiki/Sibylle_von_Cumae
https://gaz.wiki/wiki/de/Inyanga
https://www.operaroma.it/en/shows/waiting-for-the-sibyl/
English Version
»Sibyl« by William Kentridge, Ruhrfestspiele Recklinghausen, May 5, 2022
„The old gods are tired“…“Wait Again for better Gods“…“Waste no time!“
The tremendous magical, enthusiastic visual power of the African continent with its diverse cultures, cults and cultic visionary acts, the prophecies of black seers, are not performed in »Sibyl«. Are we now waiting hopefully for the „Sangoma“, South African seers, who are supposed to be active even today?
A review by Jürgen Lemke
„Sibyl“, the opening piece of the Ruhrfestspiele Recklinghausen ’22, which takes place this year under the motto „Attitude and Hope“, consists of two parts. In the first, the artist William Kentridge, the famous »old white man« from South Africa, in a white shirt and black trousers, presents himself with his drawings in a 20-minute silent film entitled »The moment is gone«. We experience a cinematic self-portrayal of the artist and director in his studio. He meticulously shows us his working methods and his special drawing techniques with charcoal, pencil and ruler in many repetitions. The stop-motion film-like process of creating his pictures and drawings, which are revised many times. He wipes meticulously, corrects and overdraws until a picture is complete. He documents the process of how, with a lot of coal dust, his motifs, linear and three-dimensional, finally appear pictorial with light and shadow. The motifs show barren landscapes in Africa. Trees and leaves, an open grave. The portrait of a black man, as a picture in an exhibition. In front of it the »white man«, a visitor to the exhibition, the artist looking at the picture? The artist Kentridge is shown twice on film, he appears as two people on the projection screen. One acts, the other films. He becomes the over-present observer of himself, his alter ego. The white man in the film uses long sticks of charcoal to draw in black and white on old, yellowed blueprints. Four black men stand live in front of the film screen on the proscenium and accompany the silent film with their voices. You will be accompanied by a pianist. After almost twenty minutes, there is an abrupt break…
We continue to wait for the Sibyl… and the question arises as to why William Kentridge, who exposed his fascinating drawing method in such black and white, almost didactically, as if one could not understand the chamber opera »Waiting for the Sibyl« that followed without it to see his drawing methods beforehand? Why does Kentridge have four black men provide musical accompaniment to the cinematic presentation of his work? »Black and white« play a major role at the reception. The artist grew up under the apartheid regime in South Africa and, as a white man, has repeatedly taken a critical look at the subject of oppressed blacks in his artistic work. But why, as a director who explicitly addresses colonialism and the exploitation of Africa by whites in his work, why does he choose a theatrical setting in which blacks play a more executive, supporting role on stage, so to speak »in the service of whites man‘ play?
The piece „Waiting for the Sibyl“ was originally commissioned in 2019 for the „Teatro dell‘ Opera di Roma“. William Kentridge was invited to develop a companion piece to American artist Alexander Calder’s 1968 piece entitled „Work in Progress“. The only stipulation at the time was that the accompanying music should not be played live but on tape… Both pieces – Calder and Kentridge – were performed back-to-back on the same evening in Rome in September 2019. That perhaps explains why Kentridge also put two pieces in a row at the Ruhrfestspiele. Instead of Calder, however, he places the film about his own work. At the time, Kentridge was commissioned to develop ideas which, on the one hand, related to the lightness of Calder’s rotating mobile works and, on the other hand, were based on the myth of the seer »Sibyl of Cumäa«, who was mentioned in Dante’s »Paradise«. According to Kentridge, the seer and prophetess was questioned by people about her fate in her rock grotto near Naples. She is said to have written her answers on oak leaves. In Kentridge’s mind, therefore, there would be a pile of (oak) leaves at the front of her cave and people would come to get her answers. But inevitably there would also be a wind blowing the leaves around, so you never really know if you really get your fate or someone else’s. For him, this is a nice metaphor for the fact that our future is unpredictable.
In the revised version „Waiting for the Sibyl“, between Calder and Sibylline associations on stage and projection screen, Kentridge ignites his famous visual fireworks between dance, performance, singing, Dadaist speech acts, ink calligraphy, shadow plays and associative word games. In a kind of »Platonic cave«, between light and shadow, we experience a flood of black-and-white collages, in the center of which a black sibyl dances wildly and ecstatically, throwing her skirts on the spot. Her play of shadows on the screen, her silhouette, mixes with word projections, a jumble of wise and nonsensical prophecies and oracles on inked, inscribed, jumbled sheets of paper from dictionaries, some of which seem like enigmatic Rorschach tests. »The old gods are tired«… »Wait Again for better Gods«… »Waste no time!« We experience bizarre actions and collages with the black actors on stage: a chair collapses fatefully, five black people form one Sibylle ensemble, one actor types wildly on a typewriter, another listens to the pages and gives you a voice. In short, a lot of puzzling and irritating things happen that only get a little calmer when we see an inked Calder-like rotating, letter-producing typewriter as an object on the screen, which loses its shape as it slowly rotates and is only recognizable from one view. Ultimately, »Sibyl« is about the unpredictable fate of people, who are now also subject to the dominating machine computer algorithm that determines even our creditworthy fate: money or life? It’s not worth waiting for a seer’s action-oriented sayings: we must take our destiny into our own hands!
I am fascinated by Kentridge’s „Sibyl“ production, but not really enthusiastic about the well-staged intoxication of images. Unlike many other viewers, his visual fireworks don’t pull me from my seat to storms of applause, to standing ovations. On the contrary, it leaves me sobered and in thought. The visually perfectionist plan seems strangely soulless to me despite all the movement. The white man, who stages his imposing world of images (together) with black people, does not really hit the bottom. The wonderful voices, actions and dances of the black performers do not really appeal to me in an ecstatic way. Despite all the fascination, they remain on display, conceptually coolly staged, fitted into a primarily visually functioning artistic conception. On the way back to the parking lot, I hear a spectator comment behind me: »The staging worked perfectly. Everything was right: light, film, action, sound, images, voices, choreography, the timing…« Your »perfectly works« aptly describes the dominance of the technical implementation to which the people, here the black people, have to submit. The beam of light from the projection forces them into place because of the perfect shadow cast. The resulting behavior has an effect on the performers, due to their local attachment to the stage. Like puppets, held by invisible threads, they move under direction to the places perfectly assigned to them. Spotlights and projectors depict moving human shadows together with what is projected on the screen; exact silhouettes are expected. And potentially show every position error. Maximum control is required. I can imagine the meticulous, maybe even torturous production process in the rehearsals between the director and the actors until everything fits exactly in the end. Until the precise visual ideas of the artist-director are implemented on stage.
The artist Kentridge himself seems to be kept in the set framework between controlled coincidence and high impulsiveness. This being held by the artist, his overly controlling basic attitude, which is expressed through his graphic movements, a hyper-fastidious attitude also manifests itself in his directing work. The strict visual direction seems necessary to him, without which the piece cannot function? That seems limiting and sobering. In spite of all the improvised searches, every picture has to fit visually exactly for him in the end. Meticulously accurate. His choreography ideas on stage have to match the shadow projections on the screen, otherwise his light and shadow theater won’t work. Positions must be adhered to, extremely precise timing is required. The black dancer is forced to stay where she is so that her shadow is perfectly projected onto the screen. She must therefore carry out her wild ecstatic movements under the utmost control. A high ambivalence appears. On the one hand, the artist draws with a ruler as if he wanted to control each of his strokes as precisely as possible. On the other hand, he performs impulsively gestural brush strokes in his black and white ink calligraphs. Devotes himself to controlled excessive outbursts of signs, such as notations of his unconscious, especially in the informal overpainting of documents.
In the film we experience an artist who observes himself, controls his drawings, corrects them and at the same time acts as if from a nebulous unconscious cloud of perception until the right form emerges, as it were, in the process of blurring. By constantly looking into amorphous structures, from which outlines and contours of objects finally appear. He works as if he were finding himself through drawing, even reinventing himself. The draftsman is constantly working on his own Sibylline „seeing into“ the world. He visions. He rejects. He sees what he sees. He lets it go. Between conscious and unconscious. He works on the projection screen. Ultimately in itself. Between form and appearance. It is a process of finding oneself on the projection surface. In a tireless, strenuous process of discovery and self-questioning: »Did I really make it? But what is real?” The artist is constantly standing behind himself in the studio and observing what he is doing. A strenuous, even compulsive process between control and letting go, from the straight line drawn with the ruler to short, ecstatic, impulsively gestural brushstrokes in which calligraphic elements break free.
Why do we not see an African seer in the chamber opera „Waiting for the Sibyl“, as they still practice today as „Sangoma“ in South Africa and are still said to be very popular? With this, a magically animistic African culture that is still alive today would be “seen” and acknowledged. William Kentridge apparently ignores African mythological roots, which were also suppressed by his ancestors in South Africa, and favors the ancient Christian-Roman culture of Italy, in which pagan cultures were co-opted by the church. He refers to the „Sibyl of Cumaea“. In the mural by Michelangelo in the Sistine Chapel, she is the only one depicted with dark skin. But it comes from Italy and not from Africa. Is it important because the famous Michelangelo painted it under the ceiling of the Sistine Chapel in Rome next to the Christian story of creation on behalf of the Church? Five different sibyls are represented there together with books or scrolls. They are named in writing and geographically assigned: »Delphica«, »Erythraea«, »Cumea«, »Persica« and »Libyca«, they came from Greece, Ionia, Italy, Asia and Africa. Sybils represent pre-Christian seers from different parts of the Roman-Greek pagan world of gods, although they are depicted here in a Christianized way. In the sky of the Sistine Chapel they appear alongside prophets and the Christian Genesis, the story of creation. Human destiny is determined by the hand of the only true God. Any knowledge gained by humans has to come exclusively from God? Any other form of knowledge is sin? Next to the „Tree of Knowledge“ with Adam and Eve and the serpent, we see the finger of God in the middle… Anyone who allows himself to be seduced and acts according to forbidden knowledge will be punished and driven out of paradise. It is known from the oracle in Delphi, Greece, that the seer, during her prophecies, crouched on a three-legged stool over a crevice from which intoxicating vapors rose, which are said to have put her in a trance-like state.
In their enigmatic prophecies, „Sibyls“ are ascribed ecstatic states in places such as rock niches or grottos. Seers of the so-called »pagan cultures« and – presumably also the South African sangomas living today – do not prophesy from books. They still speak or sing their messages received in trance or ecstasy. They do not write their words on sheets of paper or in books. Sources other than „holy“ scriptures are available to you from which a divine voice speaks to you. All things are enlivened, even animated and inspired. In every tree and stone there is something divine that speaks to those who can hear. Seers, shamans or priests go to special sacred places, trees, mountains, caves and springs. They dance, drum or get intoxicated in trance or ecstasy. They hum, sing, whisper and prophesy with words. They go into the solitude of caves. They see and prophesy the future from the rustling of the leaves of sacred trees, from the murmuring of the sacred spring, from the throwing of bones or yarrow staves. It suspects and whispers something to them from the wind-moving branches and rustling leaves of a tree. There is not one true God but many gods or spirits.
»Sibyls«, pagan seers, were in great demand, especially in times of great uncertainty. When the people looked anxiously at the heavens of the gods, observed everything closely and waited for clear signs and miracles. Everything was fatefully significant, whether the call of an eagle owl, whether the sky shone and thundered, or whether there was a miscarriage. Many things could point to a coming catastrophe. In order to calm the anger of the gods responsible for this, seers and oracles were asked which sacrifices were to be offered to them. Because according to the belief of the people, catastrophic effects could only be alleviated, if not prevented, at least by making sacrifices in front of statues of the corresponding gods or to the ancestors: wars, pestilences, epidemics, plagues of locusts, fire, earthquakes, volcanic eruptions… The ones of that time Incarnate Sibyls were already history before the birth of Christ, in ancient Rome people helped themselves with Etruscan, Greek and Roman oracles from books! The so-called »Sibylline books«, which presumably contained records of prophecies of many known sibyls manipulated by the Roman authorities in their own way, were consulted by the so-called »Decemvir« on behalf of the Senate in times of crisis. With the help of suitable oracles, they announced the corresponding sacrificial measures, through which rituals, ceremonies, processions, acts of supplication and atonement, the anger of the gods or ancestors could be reconciled.
South African apartheid, in which the whites ruled over the blacks for 200 years, has a powerful effect on William Kentridge’s production of the Sibyl. A „white man“ stages his visions and projections. He projects his images and ideas onto the stage and screen with the help of black people. And there it is, whether you like it or not, the cliché. Even here, directed by a black-friendly white man, are black people doing what they’re known to be very good at: singing and dancing? Or is that too black and white? Why does the long cult history of black seers from Africa not play a role in this play? As if a white control system lay like an invisible aura over the performances, black performers become servant spirits, maybe even unintentionally even slaves of the black-and-white image production that demands the highest precision? Where is the inspiring anima of a black African cult story? Where is it performed more unplanned, more ecstatically? Where can it develop more freely? In this production, in the performances of the actors, I don’t feel the powerful cultic soul of Africa. I miss the magic of African seers that is still at work today, beyond an ancient Greco-Roman bondage that has not yet been historically fixed and defeated. Unfortunately, the tremendous magical, inspiring visual power of the African continent with its innumerable cultures, cults and cultic visionary activities, the prophecies of a black seer are not performed in »Sibyl«. The legacy and burden of South African apartheid between white and black is in dire need of a thematic overhaul from the Black Seer’s perspective. »Wait Again for better Gods!« »Waste no time!« Are we hoping for the »Sangoma«?